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39. Jahrgang InternetAusgabe 2005

Andre Gunder Frank

 

Carl Friedrich von Weizsäcker

an Willy Brandt

9. Juli 1980
 

Lieber Herr Brandt,

im März haben Sie mir freundlicherweise den Bericht der von Ihnen geleiteten Nord-Süd-Kommission übersandt und mich um eine Stellungnahme dazu gebeten. Leider konnte ich in den zunächst darauf folgenden Monaten in dieser Hinsicht nichts tun, weil ich durch die aktuellen ost-westlichen Fragen und durch die Auflösung meines Instituts völlig in Anspruch genommen war. Neulich war Ihre Anwesenheit bei der deutsch-amerikanischen Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung angekündigt, und ich hätte diese Gelegenheit gerne wahrgenommen, um Sie nach der bisherigen Resonanz Ihres Berichts und den Aussichten für die Zukunft, die Sie sehen, zu fragen. Leider konnten Sie dann nicht kommen.

Inzwischen hat die Arbeitsgruppe über Entwicklung und Unterentwicklung, die in meinem Institut seit 10 Jahren arbeitet, ein Kolloquium abgehalten, dessen Teilnehmerliste ich Ihnen zusende. Dieses Kolloquium ist eines aus einer Kette von Kolloquien, die etwa derselbe Kreis seit Jahren an verschiedenen Stellen der Welt veranstaltet hat. Die Themen, die dort behandelt werden, berühren sich aufs engste mit den Themen Ihres Berichts. Ein Vormittag des Kolloquiums war ausschließlich der Besprechung Ihres Berichts gewidmet. Prof. Andre Gunder Frank, der ein paar Jahre, nachdem er Chile hatte verlassen müssen, bei uns in Starnberg gearbeitet hat und jetzt in Norwich in England ist, gab ein ausführliches Referat, das ich Ihnen ebenfalls beilege. Ich könnte mir denken, daß dieses Referat für Sie interessant ist. Es ist, wie bei Frank stets erwartet werden kann, in manchen Punkten kritisch, aber es nimmt ebenso wie Ihr Bericht die Interessen der Entwicklungsländer zum Ausgangspunkt und sieht ebenso klar wie Ihr Bericht die Gefahren für die ganze Welt, wenn diesen Interessen nicht genügt werden kann.

Ich gestehe, daß ich für die ärmere Bevölkerung in den Ländern der dritten Welt heute nur eine fortschreitende Verschlechterung ihrer Lage vorhersehen kann. Ich halte für möglich, daß von dieser Seite eines Tages sogar die akute Gefährdung des Weltfriedens ihren Ausgang nehmen könnte. Ihnen sage ich damit nichts Neues.

Vielleicht darf ich ein persönliches Wort über meine Lage hinzufügen. Ich bin soeben in den Ruhestand getreten, und mein persönliches Wohlbefinden reagiert darauf sehr positiv. Ich bin jetzt frei, zu meiner eigentlichen wissenschaftlichen Arbeit noch einmal zurückzukehren. Gewünscht hätte ich, daß die hier begonnenen Arbeiten hätten weitergeführt werden können. Den gegenteiligen Beschluß der Max-Planck-Gesellschaft, die mir 10 Jahre ungestörte Arbeit ermöglicht hat, respektiere ich natürlich. Es bekümmert mich (so habe ich es neulich im Fernsehen gesagt) , daß sich nicht jetzt sechs andere Institutionen darum reißen, die Arbeit ihrerseits fortzuführen. So ist insbesondere die Weiterarbeit der Gruppe über Entwicklung und Unterentwicklung (Fröbel, Heinrichs, Kreye) noch nicht gesichert.

Unabhängig hiervon möchte ich hinzufügen, daß die drei genannten Herren selbstverständlich Ihnen jederzeit zur Verfügung stünden, wenn Sie über die wissenschaftliche Reaktion auf Ihren Bericht noch nähere Informationen würden haben wollen.

Mit meinen besten Grüßen und Wünschen bin ich Ihr
CFWeizsäcker


Aus: Carl Friedrich von Weizsäcker, Lieber Freund! Lieber Gegner! Briefe aus fünf Jahrzehnten, München 2002

Bemerkungen der Redaktion: Carl Friedrich von Weizsäcker bezieht sich auf den Bericht „Das Überleben sichern, Gemeinsame Interessen der Industrie- und Entwicklungsländer, Bericht der Nord-Süd-Kommission - Mit einer Einleitung des Vorsitzenden Willy Brandt“, Köln 1980

Das Max-Planck-Institut für die Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg bestand von 1970-1980 und wurde gemeinsam von Carl Friedrich von Weizsäcker und Jürgen Habermas geleitet.

Von einem Zu-Rate-Ziehen Andre Gunder Franks bzw der Starnberger Gruppe über Entwicklung und Unterentwicklung zu den Arbeiten der Nord-Süd-Kommission durch den Vorsitzenden Willy Brandt ist nichts bekannt. Andre Gunder Frank war einige Jahre zuvor nach vergeblichen und von nicht einflußloser Stelle hintertriebenen Versuchen, an einer deutschen Universität eine Lehrberufung zu erhalten, nach England übergesiedelt.

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